Anmerkungen zum Digital Manifest (ein Appell zur Sicherung von Freiheit und Demokratie)

Kategorie: Markt- und Mediaforschung — Tags: , , , 16:24 3. Januar 2016

In Spektrum der Wissenschaft 1/2016 ist eine hochspannende Artikelserie genannt das Digital Manifest abgedruckt. Online abrufbar ist unter anderem der grundlegende Artikel und die Handlungsvorschläge der Wissenschaftler, die sich dafür aus unterschiedlichen Forschungs(ein-)richtungen zusammengetan haben.

Für mich ein Punkt, an dem sehr komplexe Wissenschaft – und das ist die algorithmengesteuerte digitale Welt – sehr nah an einen ursprünglichen Punkt der (demokratischen) Gesellschaft stößt. Bei dem sich entscheidet, wie es um einen existenziellen Grundwert dieser Gesellschaftsform, der persönlichen (Entscheidungs-) Freiheit des Einzelnen, in Zukunft bestellt sein wird.

Das Digital Manifest stellt ein Zitat Kants voran:

 „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (1784)

Im Extrem (für die einen, im Ideal für die anderen) führt das algorithmengesteuerte Vorschlagwesen digitaler Unternehmen zu diesem Punkt. Was Kant als Ausgang und damit Beginn deutet, wäre hier das Ende einer Entwicklung, das Anlegen von nicht abnehmbaren (digitalen) Scheuklappen.

Doch könnte eine Gegenbewegung (und historisch gesehen gibt es deren viele) einsetzen, die Personen veranlasst, aus (schlechter) Erfahrung keinerlei persönlichen Informationen preisgeben zu wollen. Praktisch niemanden. Was den Rücksturz in die subsitenziale Steinzeit bedeutet, die räumlich wie gesellschaftlich beschränkt, streng persönlich überschaubar klein und steuerbar bleibt, so dass nur im engsten sozialen Rahmen der soziale Klebstoff ‚Vertrauen‘  verwendet werden muss. Für mich persönlich keine brauchbare Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaftsform.

‚Bevor es soweit ist‘ wollte ich dem folgenden Abschnitt beginnen. Das ‚bevor‘ trifft nicht zu. Wir sind bereits mittendrin. Jedoch ist Veränderung, Anpassung möglich und nötig, um unsere derzeitige gesellschaftliche Lebensform im Grundsatz  zu erhalten. Wer könnte die Auswirkungen dieser extrem dynamischen Entwicklung der Digitalisierung der Lebenswelt im Vorhinein erkennen?

NB: auch Karl Marx hat nicht etwa im Vorhinein vor etwas zukünftigen gewarnt, sondern die Industrialisierung, eine fast ebenso dynamische Veränderung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert praktisch beobachtet, die Auswirkungen und dadurch entwickelnde gesellschaftliche Prozesse beschrieben. Streng genommen hat er keine Handlungsoptionen dargestellt, sondern hergeleitet, welches Ende das kapitalistische System nehmen wird. In dem Sinne ist Marx Theoretiker geblieben. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern des hier vorliegenden Digital Manifests.

Nur im offensiven Umgang werden wir zukünftig Menschen für unsere Untersuchungszwecke gewinnen können. Denn im Kern soll Marktforschung Produkte besser machen, Konsumenten und deren Handlungen besser verstehbar zumachen. Und dadurch natürlich auch steuerbarer: auf was anderes zielt eine Marketingmaßnahme ab?

Ist das Misstrauen „was alles (unterstellt) böses mit meinen Daten passiert“ in den Köpfen, ist es praktisch unmöglich, ein Geschäftsinteresse als legitim und für den Befragten letzten Endes nützlich und vorteilhaft glaubhaft zu beschreiben.

Damit nützt es aus meiner Sicht nichts, den eigentlichen Zweck einer marktwirtschaftlichen Marktforschung zu verbrämen, nämlich: den besseren Verkauf eines Produktes.

Marktforscher sollten die vorliegende europäische Gesetzesnovelle zum Datenschutzgesetz nutzen, um einer „Entmündigung des Befragten“ (ein abgewandeltes Zitat des Digital Manifests) vorzubeugen. Also versuchen, die das Forschungsinteresse transparent und glaubwürdig zu vermitteln.

Schwierig(er) wird das bei „digitaler Beobachtung“, dem Tracking (auf Webseiten, persönlichen Geräten wie etwa Smartphones etc.). Denn dieses entgeht der konkreten Aufmerksamkeit des Befragten während der Nutzung (=marktforscherisches Datensammeln).

Die Branche kann und sollte sich damit abgrenzen von Unternehmungen, die durch digitales Tracking im Ideal eine Person ohne zukünftige Handlungsalternativen „erschaffen“ wollen, die im Sinne Kants vollständig geleitet wird vom anderen.

Wollen wir ein Konsumentengaul mit angelegten Scheuklappen sein, der vom Kutschbock durchs digital verfolgende Kutscher-Unternehmen dem nächsten „Belohnungslevel“-Hafersack entgegen strebt, ohne wirklich zu wissen, was wir da hinter uns herziehen?

Wollen wir nicht?! Wollen wir dann solche Befragte? Ich sicher nicht.