„Fast die richtige Zielperson“

Kategorie: Markt- und Mediaforschung — Tags: , , 18:51 16. Dezember 2009

Hier ein Zitat das ins Thema einführt. Der Artikel behandelt neue Ansagen in der S-Bahn in München.

„Weggefallen ist auch das gestelzte „please disembarke at the next station“, geschaffen von einem Muttersprachler, jedoch von einem, der im Flugverkehr bewandert war. Dieses Mal, sagt eine Bahnsprecherin, habe man sich von einem Muttersprachler beraten lassen, der sich im Bahnverkehr auskenne.“ (Süddeutsche Zeitung vom 15.12.2009)

Was die Bahnsprecherin verschweigt ist, dass über Jahre hinweg eine englische Ansage im Gebrauch war, die (mindestens) englische Muttersprachler in Erstaunen gesetzt haben wird. Warum? Man hatte einen Muttersprachler hinzugezogen – aber leider nicht den „richtigen“. Diese Erfahrung ist wahrscheinlich auf Kundenfeedback zurückzuführen. Sie führt dazu, dass die „nächste Gelegenheit“ genutzt wird, in diesem Fall aber unglaublich lange, vielleicht 10 Jahre (ich weiß es nicht, habe die Ansagen aber lange genug in den Zügen gehört) ins Land gezogen sind, um dann den „richtigen“ Muttersprachler fragen zu können. Der Prozess einer grundlegenden Erneuerung von S-Bahn Ansagen scheint finanziell und organisatorisch ein größerer Aufwand zu sein. Er geschieht also nur in größeren Zeitabständen.

Eine schöne Illustration „fast die richtige Zielperson“ gefunden zu haben. Also: „im Prinzip den richtigen Weg eingeschlagen zu haben“. Um im Bild zu bleiben, ist man allerdings auf halber Strecke falsch abgebogen. In der Marktforschung kann dies ernsthafte Konsequenzen haben.

Übertragen wir die Situation auf den Marktforschungsprozess: Ich hörte schon oft Sätze wie „Dann fragen wir halt mal unsere Webseitennutzer.“ Dagegen spricht prinzipiell nichts – wenn man diese Einschränkung – also in diesem Fall: Webseitennutzer sind ein bestimmter Ausschnitt der Zielgruppe – nicht vergisst.

Wenn im Prozess des Berichtens derartige Einschränkung aber „vergessen“ werden, dann drohen Ergebnisse falsch interpretiert zu werden. Wenn im Zuge von Verkürzungen (die Fallstricke des Management Summarys) daraufhin getroffene Entscheidungen sich als schlecht erweisen. Und man (also: auch der Chef, Auftraggeber etc.) sich die Frage stellt, warum in aller Welt – „die Marktforschung hat doch gesagt…“ – daneben liegt.

Wer leidet darunter?

* Die Marktforschung. Da das Vertrauen in sie erschüttert wird.Marktforscher müssen sich also gelegentlich dem Verkürzungswahn entgegenstellen – wenn dieser auf den Holzweg führt. Meine Erfahrung sagt: das passiert schnell und häufig.

* Das Geschäft. Da Geld und Zeit für Marktforschung bereit gestellt werden und nicht der maximale (auch nach oben begrenzte) Nutzen heraus gezogen werden kann. Oder schlimmer: Entscheidungen können gar nicht oder zeitlich erst viel später revidiert werden. Das Geschäft, das optimiert werden sollte, wird ausgebremst.

Hier fängt Qualität ganz am Anfang an. Genau zu diesem Zeitpunkt muss man sich Zeit nehmen und den Weg zu Ende gehen und bohren, um zu prüfen ob der Weg denn kein Holzweg ist. Denn sonst sitzt man Jahre wie im Beispiel auf einer Ansage, die „fast die richtige“ ist. Ich denke, in Zeiten starken Konkurrenzdrucks ist das zu wenig, um zu überleben.

Ach ja: Aus „please disembarke at the next station“ wurde „exit on the right“. Auf das sich Englischsprachler ab sofort wie zu Hause fühlen in der Weltstadt mit Herz.